Felix trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Endlich hörte er hinter der Kurve das Motorengeräusch des Schulbusses. Jetzt fuhr der in die Haltebucht und stoppte direkt neben ihm. Die Tür öffnete sich. "Hallo Felix, willst du einsteigen?" Hannes, der Busfahrer, lächelte ihm zu.
"Hallo Hannes, ja, klar doch. Hab schon auf dich gewartet."
Er stieg ein und setzte sich auf den Beifahrersitz, den Hannes für ihn zurückgeklappt hatte. Jeder nannte den Busfahrer "Hannes". Auch die Erwachsenen im Dorf. Er mochte Ende dreißig sein, war schlank, fast schlaksig, wirkte jugendlich in seinem hellem Poloshirt und der blauen Jeans. Seine dunkelblaue Schirmmütze saß wie festgewachsen auf dem Kopf. Seit vor zehn Jahren die kleine Dorfschule in Hinterhausen geschlossen worden war, fuhr er die Kinder zur Schule nach Neustadt. Jeder kannte ihn, keiner redete über ihn. Er grüßte freundlich, kam stets zuverlässig, fuhr pünktlich wieder ab und verstand es, dass selbst die lebhaftesten Kinder während der Busfahrt auf ihren Plätzen sitzen blieben.
Felix war stiller als die meisten der anderen Schüler, saß immer in der ersten Reihe rechts, meistens ohne Banknachbarn, wirkte in der Menge der lachenden und munter drauflos plappernden Kinder wie ein Außenseiter, obwohl er auch aus einer der alteingesessenen Bauernfamilien kam, die ihr Leben in den Häusern und Höfen mit den dichten Gardinen vor den kleinen Fenstern und geschlossenen Toren möglichst gut nach außen abschotteten, den Innenhof immer sonntagssauber gefegt hatten und nur das aufgeräumte Wohnzimmer für Eintretende öffneten.
Aber Felix fiel trotz seiner Zurückgezogenheit auf. "Feuerkopf" riefen ihn die Dorfjungen wegen seiner roten Haare und den Wirbeln auf dem Kopf, die das ohnehin schon borstige Haar steil und wild durcheinander nach oben stellten.
"Wo er die nur her hat", wunderten sich die Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand. Seine Mutter trug einen dicken dunkelblonden Haarknoten. Damit versuchte sie ihre Lockenpracht zu bändigen. Doch das gelang nur mäßig. Das Haar seines Vaters hingegen wuchs inzwischen spärlich. Rote Haare und noch dazu so verwirbelt hatte keiner in der Familie und im Dorf auch nicht.
In die dritte Klasse ging aus Hinterhausen nur Felix. Donnerstags endete sein Unterricht eine Stunde vor dem der anderen. Die Wartestunde verbrachte er nicht im Aufenthaltsraum, sondern lief zur Bushaltestelle und hoffte, dass Hannes schon früher angefahren kam. Denn er mochte ihn und hörte ihm gern zu, wenn er erzählte, von seinen Reisen nach Norwegen zum Beispiel. In den Sommerferien fuhr Hannes regelmäßig Reisegruppen dorthin mit Teilnehmern weit über Neustadt und Umgebung hinaus. Hannes schwärmte von den Fjorden und den tosenden Wasserfällen, so dass Felix am liebsten schon im nächsten Jahr mit ihm fahren würde.
Heute wirkte Felix nachdenklich. Er fragte: "Hannes, stimmt es, dass Norwegen so toll ist?"
"Klar, wieso nicht?"
Felix druckste herum und blickte nach unten.
"Hannes, ist Norwegen manchmal auch traurig?"
"Ja, manchmal schon, wenn Regen fällt. Dann sind die Tropfen wie Tränen und alles ist dunkel und trist. Meinst du das?" Hannes blickte Felix an. Der war nicht zufrieden mit der Antwort.
"Nein, das meine ich nicht. Ich meine, macht Norwegen traurig?"
"Wieso?"
Felix guckte Hannes an. "Hannes, bist du mein Freund?"
"Ja", antwortete der Busfahrer.
"Wenn ich dir ein Geheimnis sage, verrätst du das keinem Menschen auf der Welt?"
"Ganz sicher verrate ich das nicht. Großes Ehrenwort." Hannes hielt ihm zur Bestätigung die rechte Hand hin und tippte mit der linken an seine Schirmmütze.
"Hannes, gestern habe ich meiner Mama von Norwegen erzählt und sie gefragt, ob wir da mal hinfahren könnten. Am liebsten, habe ich ihr gesagt, würde ich in den Sommerferien mit dir im Bus fahren, weil du dich dort so gut auskennst." Felix stockte, blickte auf seine Hände und verknotete nervös die Finger, bevor er weiterredete. Hannes hörte still zu.
"Dann erzählte sie, dass sie vor zehn Jahren in Norwegen war, dass ich darüber aber mit niemandem sprechen dürfe, auch nicht mit dir, und dass diese Reise ihr ganzes Leben verändert habe. Warum denn, habe ich sie gefragt. Da nahm sie mich in die Arme. Aber ich habe trotzdem gemerkt, dass sie geweint hat. Hinterher waren meine Haare nass", presste Felix die nächsten Sätze heraus. Er schluckte. Ihm saß ein dicker Kloß im Hals. Er strich sich über den roten Borstenhaarwirbelschopf als wollte er prüfen, ob der immer noch nass war und blickte zu Hannes. "Warum hältst du deine Mütze fest?"
"Manchmal, Felix, muss man sich festhalten."
Hannes wirkte plötzlich auch traurig, lächelte ihm dennoch zu: "Über Norwegen reden wir nächste Woche weiter. Guck mal, da kommen schon die anderen Kinder."
Als Hannes zu Hause seine Schirmmütze an den Haken neben dem Spiegel hing, blickte er hinein. Ein roter Borstenhaarwirbelschopf leuchtete ihn an.