Schwülwarme Hitze lag in der Luft. Der Himmel hing voller heranrollender Wolken. Grau-schwarz verdüsterten sie das Licht und warteten darauf, sich mit zuckenden, zornigen Blitzen zu entladen.
Marias bunte Bluse klebte an der Haut. Das schwere dunkelbraune Haar drückte die Wärme in ihr Gesicht.
Schweiß rann den schlanken, fast hageren Frauenkörper hinunter und verband sich unter den Füßen mit dem Staub der steinigen Stufen zu einer schmutzig-grauen Sohle. Maria schaute nach oben. Sie erschrak. Solch einen bedrohlichen Wolkenhimmel hatte sie in ihren fünfunddreißig Jahren noch nicht erlebt. "Kehr um", warnten sie innere Stimmen. Sie wollte die vielen Stufen hinunter eilen und rechtzeitig vor dem Ausbruch des Unwetters unten ankommen. Doch die wacklige Aussichtsplattform des alten Turmes lockte. Ihre Füße widersetzten sich. Als würden die schmutzig-grauen Fußsohlen sie den Gesetzen der Schwerkraft entheben, schien sie die Stufen hinaufzuschweben. Mit jeder Stufe aufwärts rückte das Ende der Wendeltreppe aber in die Ferne, grollten die rollenden Wolken heran und umwirbelten das Gemäuer.
"Halt, stopp, nicht weiter." Maria erschrak. Eine Frau versperrte ihr den Weg. Maria wollte vorbei. Doch ihre Füße klebten auf der Stufe fest. So sehr sie sich auch mühte, sie konnte sie nicht lösen.
"Du wirst bei dem Wetter nicht weiter nach oben eilen." Laut und bestimmt übertönte die Stimme das Brausen des aufkommenden Sturmes, wurde weiter getragen in das Gemäuer und schallte gebrochen und verändert aus den verschiedenen Ebenen zurück.
"Verschwinde!" Maria sah, dass wieder einmal Martha vor ihr stand, schlank, fast hager, verschwitzt und verklebt mit schweren dunkelbraunen Haaren. Martha begleitete sie, wohin sie auch ging. Wenn Maria als Kind toben, springen und lachen wollte, befahl Martha ihr, ruhig sitzen zu bleiben, weil das den Erwachsenen besser gefiel. Immer zeigte Martha ihr, wie sie sich angepasst und pflichtbewusst zu verhalten hatte und verhinderte damit so oft, dass sie ihren inneren Wünsche und Leidenschaften nachging.
"Hau ab." Marias Kreischen übertönte das Tosen des tobenden Sturmes.
"Nein!" Martha schrie nur dieses eine Wort. Laut, kräftig, bestimmend, ohne verzerrenden Hall stand es als unüberwindbare Schranke vor Maria. Statt weiterer Worte entfachte sich ein heftiger Kampf zwischen ihnen. Die Stufe im Inneren des Turmes weitete sich zu einem großen freien Platz. Menschen gingen vorbei und diejenigen, die stehen blieben, schüttelten ihre Köpfe angesichts der beiden miteinander ringenden Gestalten auf dem Boden. Maria und Martha waren wieder einmal in eines jener Gefechte verwickelt, deren Ende bisher für keine ein Erfolg gewesen war.
Ein Blitz flammte auf. Mächtige Feuerzacken warfen gleißend blendendes Licht über die Frauen. Der Platz wandelte sich zurück zur Stufe in dem engen Turm. Beide sanken gleichzeitig in die Knie. Bevor das Poltern des Donners weggerollt war, leuchtete der nächste Blitz auf, mächtig und gefährlich nah. Blitz und Donner warteten nicht mehr aufeinander. Zeitgleich wüteten sie rund um den Turm. Kleine Feuerpfeile flogen durch die Luft, nahmen Kurs auf Maria und Martha, näherten sich mit rasender Geschwindigkeit züngelnd und lüstern ihren Opfern, ließen ihre Hitze sprühen, griffen an. Maria kreischte, Martha schrie. Maria sprang hoch, wollte den Feuerspitzen entfliehen.
"Achtung! Deckung!" Eine feurige Pfeilwelle nahm Kurs auf Marias Kopf. In letzter Sekunde zog Martha sie zurück auf die Stufen. Die Feuerpfeile prallten an der steinernen Wand über ihren Köpfen ab. Weglaufen war nicht möglich. Überall tobten die Flammenspeere. Maria hing fest in Marthas Klammergriff. Entsetzen drang aus allen Poren, ließ beider Schweiß ineinander strömen. Ihre Blicke trafen sich, begegneten einander in Angst und Panik. Martha lockerte ihren festen Klammergriff.
"Nicht loslassen", flehte sie die andere an. Zum ersten Mal fühlte sie den Halt, den Martha ihr gab. Die Feuerpfeile änderten ihre Gestalt und sprühten wie Sterne von Wunderkerzen durch den alten Turm. In diesem Sternenflimmer hörte der Sturm auf zu brausen und die dicken Tropfen peitschten nicht länger auf den steinernen Grund.
Ein Wecker klingelte wie von weit her. Maria schaltete ihn aus. Müde erhob sie sich aus dem Bett und ging ans Fenster. "Es hat ja tatsächlich gewittert heute Nacht", murmelte sie verwirrt und schaute einen Moment dem gleichmäßigen Nachregen zu. Gleich würde sie aufbrechen zu einem Kurzurlaub nach Paris. Auf dem Tisch lag ihr Personalausweis. Den durfte sie nicht vergessen. Neben dem gerasterten Bild der lächelnden Frau mit den schweren dunklen Haaren stand zu lesen: Müller, Maria Martha.