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Multidisziplinär statt kausal

Prof. Dr. Biesalskis Lösungsvorschlag orientiert sich an den komplexen Interaktionen von Ernährung, Gesundheit und Krankheit. Er fordert eine Ernährungswissenschaft, die zukunftsorientiert arbeitet und sich neuen Erkenntnissen, vor allem im Bereich der Genforschung, öffnet. Diese weisen darauf hin, dass große individuelle Unterschiede, beruhend auf so genannten Polymorphismen, nach denen die genetische Anlage beispielsweise zur Bildung verschiedener Verdauungsenzyme von Mensch zu Mensch verschieden sein kann, sehr unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten mit bedingen. Er fordert auch, dass die Ernährungswissenschaft die Berührungsängste zu anderen Wissenschaften verliert und damit nicht nur zu einer inter-, sondern sogar zu einer multidisziplinären Wissenschaft wird.

Eigentlich hat sich die Ernährungswissenschaft als angewandte Wissenschaft von ihren Anfängen an dem interdisziplinären Arbeiten verschrieben und verfügt über ein breites Instrumentarium zur gezielten Aufdeckung der Zusammenhänge, in denen die Ernährung steht. Nach dem ihr eigenen Modell ist der Mensch als Individuum eingebunden in soziale und ökologische Netzwerke. Das alles beeinflusst die Entstehung von Krankheiten mindestens so sehr wie das, was wir essen – und es beeinflusst die Ernährungsgewohnheiten eines jeden einzelnen.

Wo Essen als soziales Ereignis erlebt wird, Mahlzeiten den Tagesrhythmus bestimmen und Einkaufsgewohnheiten sich nicht nur am Geldbeutel oder der Werbung orientieren, kann eine Mahlzeit mit Spaghetti und Tomatensauce einen ganz anderen Stellenwert haben als dort, wo Essen zwischendurch geschieht, dasselbe Gericht von der Tiefkühltruhe über die Mikrowelle auf dem Schreibtisch im Büro landet und neben dem Telefonieren verzehrt wird oder wo in der modernen Erlebnisgastronomie Essen als „event“, eingebunden in ein komplettes Unterhaltungsprogramm, zelebriert wird.

Essverhalten wird sowohl durch Innensteuerung als auch durch Außensteuerung beeinflusst. Von „innen“ kommt der Hunger, kommen Emotionen einer Mahlzeit gegenüber, kommt auch die Wertschätzung, die allerdings gleichfalls vielen Außeneinflüssen unterliegt und sich schnell wandeln kann. Vor der BSE-Krise galt Rindfleisch in der Wurst als Qualitätszeichen, mit der Krise mochte niemand mehr Rindfleisch in der Wurst oder auf dem Teller essen, mittlerweile ist die Abscheu davor längst verklungen – obwohl die Zahl der bekannt werdenden BSE-Fälle nach wie vor beständig steigt. Vertrauensbildende Maßnahmen von außen haben die positive Wertschätzung fast komplett zurück gewonnen. Zu den verschiedensten Umweltfaktoren, die Essverhalten von außen steuern, gehören auch sozioökonomische Einflussfaktoren wie beispielsweise die steigende Zunahme der Single-Haushalte. Wer allein lebt, ernährt sich anders als jemand, der in eine Familie oder Gemeinschaft eingebunden ist. Laut Professorin Dr. Ingrid-Ute Leonhäuser von der Justus-Liebig-Universität in Gießen wurde dieses Zusammenspiel aller Faktoren bisher sträflich vernachlässigt. Sie konstatiert: „Wir wissen zwar annähernd, was und wie viel Menschen essen und essen sollen. Wir wissen indes nur wenig darüber, warum die Menschen das essen, was sie essen.“